Entschleunigung. Moderne Zeiterfahrung und poetische Eigenzeit in der Prosaliteratur der 19. Jahrhunderts (Stifter, Raabe)
Anliegen des Forschungsprojektes ist es, unter dem Begriff der Entschleunigung, die Vorstellung einer temporalen Vielschichtigkeit der Moderne anhand einer Analyse poetischer Darstellungspraktiken von Zeitlichkeit in der deutschsprachigen Prosaliteratur des 19. Jahrhunderts zu untersuchen. Das Projekt geht dabei von einem Grundgedanken des Schwerpunktprogramms »Ästhetische Eigenzeiten« aus, das einen konstitutiven Zusammenhang von Zeit und Darstellung konstatiert und danach fragt, wie Zeitlichkeit in ihrer kulturellen und historischen Vieldeutigkeit erfahrbar gemacht und reflektiert wird. Anders als die diskurshistorischen und systemtheoretischen Großtheorien setzt das Forschungsvorhaben auf die Darstellungskraft ästhetischer Verfahrensweisen in einzelnen künstlerischen und literarischen Werken.
Das Forschungsprojekt gliedert sich in zwei Teilprojekte, die zu Dissertationen führen:
a) Die Restitution des Epischen. Stifters moderne Gattungshybride (Lukas Keiser)
Für die Texte Adalbert Stifters spitzt sich die Auseinandersetzung mit polychronen Zeitstrukturen vor allem in Bezug auf den Begriff des Epischen zu. Die von der Hegelschen geschichtsphilosophischen Klassifikation für die Moderne verabschiedeten Gattungsmerkmale des Epischen, wie Stetigkeit, Langsamkeit und indifferente Beschreibung von Gegenständlichkeit, strukturieren das Stiftersche Werk. In ihrer »epischen Naivetät« (Adorno) sind sie eine Kritik an der Beschleunigungsdynamik und Teil eines epischen Glücksversprechens, das auf zahlreiche Autoren des 20. und 21. Jahrhunderts gewirkt hat und als Traditionslinie eines Gegenkanons der Moderne zu verstehen ist, die diese nicht als monozentrischen, sondern polyvalenten Weg ausweist.
b) Polychrone Verdichtungen. Poetische Zeitmodellierungen im Werk Wilhelm Raabes (Marie Drath)
Für die literarischen Texte Wilhelm Raabes gilt es sowohl thematisch (z.B. in der Darstellung der Eisenbahn, der Zerstörung der Land-Idyllen, der traumatischen Dimension historischer Kriegsschauplätze) als auch formal (in selbstreflexiven Wiederholungsstrukturen, Intertextualitäten, permanenter Selbstthematisierung des Schreibens) ihren zeitreflexiven, kritischen Potentialen anhand genauer Lektüren nachzugehen. Dabei grenzen sich Raabes Texte deutlich von den Vorstellungen der Programmrealisten ab. Raabes formale Komplexität schichtet und verdichtet, so die These, vor allem unterschiedliche Zeitebenen (biblische Zeit, Märchenzeit, Idyllenzeit, Prähistorie, Zeitgeschichte) und wendet sich in ihrer poetischen Eigenzeitlichkeit einer polychronalen Verfasstheit von ästhetischer Moderne zu.