Ästhetische Eigenzeiten – Zeit und Darstellung in der polychronen Moderne

»Les journées ne durent plus«. Die Psychopathologie der Zeit in der deutschen und französischen Literatur vom ausgehenden 19. bis zum mittleren 20. Jahrhundert

Maximilian Bergengruen (Karlsruhe)

Teilprojekte Phase: 1. 2.

»Les journées ne durent plus«. Die Psychopathologie der Zeit in der deutschen und französischen Literatur vom ausgehenden 19. bis zum mittleren 20. Jahrhundert

Ziel des Projekts ist eine umfassende Erforschung von literarischen Texten, die den Versuch unternehmen, Eigenzeitlichkeit als »Kardinalsymptom« psychischer Krankheiten zu denken. Eigenzeitlichkeit ist dabei so zu verstehen, dass von den Zeitgenossen sowohl eine Differenz gegenüber einer objektiven, äußerlichen, quantitativen Zeit als auch gegenüber dem inneren, qualitativen Erleben einer nicht psychisch erkrankten Umwelt behauptet wird. Das Projekt ist literaturwissenschaftlich angelegt und möchte die deutschsprachige Literatur vom ausgehenden 19. bis zum mittleren 20. Jahrhundert im Vergleich mit der französischen Literatur und in ihrer komplexen Wechselwirkung mit der zeitgenössischen Psychiatrie und Zeitphilosophie untersuchen. Es gilt also neben den literarischen auch psychiatrische Texte in den Blick zu nehmen, die einerseits von den literarischen profitieren, auf die andererseits aber auch die Literatur zurückgreift, um die psychiatrischen Gedankenfiguren in Bezug auf Figurengestaltung und -Konstellation, Handlungsführung und Schreibweise literarisch bzw. im Hinblick auf ästhetische Modelle zu adaptieren.

Im Projekt soll zwischen einem tendenziell neurotischen und einem tendenziell psychotischen Paradigma unterschieden werden. Beide Paradigmen sind ungeachtet einer gewissen Überschneidung zeitlich unterschiedlich gelagert sind: Das verstärkte Interesse der deutschen und französischen Literatur für das Verhältnis von (impliziter) Eigenzeitlichkeit und neurotischer Psychopathologie reicht, so die Ausgangsüberlegung, von den 1890er Jahren bis in die 1920er Jahre, während das verstärkte Interesse der Literatur an Eigenzeitlichkeit im Rahmen psychotischer Krankheiten in den 1910er Jahren beginnt.

Die erste Arbeitshypothese des Projekts besagt, dass die deutsche (und französische) Literatur im neurotischen Paradigma auf psychiatrische Gedankenfiguren wie Trauma, Amnesie und Déjà-vu rekurriert, die in Bezug auf ihre Symptomatik zwar zeitliche Aspekte besitzen, aber nicht nosologisch ausformuliert sind. Dies hat zur Folge, dass diese Gedankenfiguren in der Literatur oft mit zeitphilosophischen und/oder mystischen Strukturmodellen expliziert werden.

Im psychotischen Paradigma, so die zweite Arbeitshypothese, ist die Ausgangslage noch einmal komplexer: Einerseits schreibt sich die deutsche (und französische) Literatur in die oben beschriebene literarische Tradition ein, psychiatrische Zeitkonzepte philosophisch und theologisch zu explizieren. Dieses Modell muss jedoch angesichts des nun stärkeren Interesses an psychotischen Krankheiten wie Schizophrenie, Epilepsie u.a. neu formuliert werden. In diesem Zusammenhang tritt die deutsche und französische Literatur in einen Dialog mit der, ihrerseits philosophisch orientierten, Psychiatrie (etwa von Gebsattel, Straus, Jaspers, Binswanger in Deutschland, Minkowski und Janet in Frankreich), die ab den 1920er Jahren explizite Modelle psychopathologischer Eigenzeiten formuliert.