Eigenzeit und Lesegemeinschaften. Zeitstrukturierung durch anglophone Langromane von 1970 bis heute
Komplexe Langromane haben sich in der Moderne als eine Gattung konsolidiert, die Zuständigkeit für die kulturelle Deutung von Zeit und Welt im Ganzen beansprucht. Nach den Vorbildern von Proust, Joyce und Thomas Mann gestalteten Autoren wie Thomas Pynchon und David Foster Wallace umfangreiche, intertextuell und interdiskursiv vielschichtige Romane. Dass viele dieser Werke als Zeitdiagnosen und Epochensignaturen interpretiert und rasch kanonisiert wurden, überrascht kaum. Verblüffend ist, dass sie trotz massiver Lektüreschwierigkeiten semiprofessionelle und außerakademische Lesegemeinschaften hervorbringen. Diese Lesegemeinschaften sind keine reinen Interpretationsgemeinschaften, sondern pflegen performative und kollektive, eminent zeitreflexive Lektüreformen: Exemplarisch sind die öffentlichen Dauerlesungen von Pynchons Gravity’s Rainbow in den 1980er Jahren und die je dreimonatigen kollektiven Leseprojekte zu Doris Lessings The Golden Notebook, 2008–2009, und zu Wallaces Infinite Jest, das 2009 unter dem Titel Infinite Summer stattfand. Beide sind im Internet dokumentiert.
Die These des Projekts ist, dass solche Leseaktionen gezielt auf die zeitliche und kognitive Überforderung durch maximalistische Texte reagieren – und das heißt auf Dissonanzen zwischen ästhetisch strukturierter Eigenzeit und sozialer Zeit: Sie organisieren und objektivieren Lektürezeit und machen sie kollektiv beobachtbar sowie gestaltbar. Dies geschieht in direkter Auseinandersetzung mit den Semantiken, Strukturen und Problemdiagnosen von Zeitlichkeit in Langromanen (von philosophischen und wissenschaftlichen Zeitbegriffen bis hin zu sozialen Konfigurierungen von Zeitlichkeit und Geschichte). Die Ausarbeitung dieser These erfordert die Zusammenführung unterschiedlicher methodischer Ansätze: einer Formästhetik der Zeitstrukturierung von Langromanen, einer Diskursanalyse ihrer akademischen und außerakademischen Prämierung und einer Literatursoziologie von Lese- und Interpretationsgemeinschaften. Das Projekt wählt diesen kulturwissenschaftlichen Zugang zu Literatur mit dem Ziel, Lesegemeinschaften von Langromanen als exemplarische Verhandlungszonen von Bruch- und Schnittstellen zwischen ästhetisch konfigurierter Eigenzeit und sozialer Zeit beobachtbar zu machen.