Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Deutsche Literatur, Dorotheenstraße 24, 10117 Berlin, Raum 3.246
8. Mai 2015, 9:30 Uhr – 9. Mai 2015, 13:00 Uhr
Organisation: Caroline Forscht, Ethel Matala de Mazza, Stefanie Retzlaff
Dass von einer Trennung von Musik- und Sprechtheater in der Theaterpraxis des 18. und 19. Jahrhunderts nicht ausgegangen werden kann, ist bereits des Öfteren konstatiert und gut belegt worden. Erst recht gilt das im 19. Jahrhundert für das Melodram und die Wiener Volkskomödie. Beiden populären Theatergenres ist bei aller Heterogenität gemeinsam, dass sie in je eigener Weise musikalische Elemente und Formen integrieren. Um diese Dramaturgien adäquat zu untersuchen, sind interdisziplinäre Zugänge erforderlich.
Die Interaktion von Theater und Musik in beiden Genres soll Gegenstand unseres Workshops sein, zu dem wir Literatur-, Musik- und Theaterwissenschaftler/innen einladen. Der Workshop findet statt im Rahmen des Forschungsprojekts »Szenarien des Kurzweiligen. Zeitökonomien im populären Theater des 19. Jahrhunderts«, das seine Arbeit im Oktober 2013 als Teil des DFG-geförderten Schwerpunktprogramms »Ästhetische Eigenzeiten« aufgenommen hat. Unter der Leitfrage, wie Zeit und Zeitlichkeit in diesen Genres durch deren multimediale Mischformen modelliert werden, interessieren uns speziell die Wechselbeziehungen zwischen Prosa und Poesie, Rede und Gesang sowie zwischen Handlung und Musik.
Ausgehend von Quellenmaterialien, die Caroline Forscht und Stefanie Retzlaff im Rahmen ihrer Teilprojekte zur Wiener Volkskomödie und zum Melodram bearbeiten, soll auf dem Workshop der Konnex von Theater und Musik an konkreten Szenarien und charakteristischen Formelementen beider Genres diskutiert werden, wobei sich folgende Schwerpunkte anbieten:
[1] Einlagen. Spielarten – musikalische Realisierungen – Funktionen
Anders als im Melodram, wo die szenebegleitende und -unterbrechende Musik im Vordergrund steht, kennt die Wiener Volkskomödie eine ganze Reihe von musikalischen ›Einlagen‹, deren Spektrum von Couplets über mehrstimmige Lieder, Quodlibets, Chöre und kleinere Ensembles bis hin zu instrumentalen ›Zwischenmusiken‹ reicht. Das wirft die Frage nach den verschiedenen Funktionen der musikalischen Elemente in der Handlungsdramaturgie auf, auch nach den durch sie erzeugten Rhythmisierungen. Wie fügen sich diese Einlagen in den Komödienplot? Inwieweit entlasten sie die Handlung von kausalen und konsekutiven Verknüpfungen, indem sie andere strukturelle und thematische Vermittlungen herstellen, z.B. durch das Kitten von Brüchen und insbesondere von Zeitsprüngen? Wie können speziell durch Couplets aber auch ältere Komödienelemente wie das Extempore – als Sprechen ›aus dem Moment‹ – neu besetzt und zum ausgedehnten Räsonieren über Fragen, die an der Zeit sind, genutzt werden? Welches eigene Zeitmaß und Zeitverhältnis können sie durch ein Abschweifen zu Welthistorischem oder Lokalaktuellem, durch Reim-, Vers‐ und Strophenformen und nicht zuletzt durch ihre musikalische Anlage auf einem Spielfeld durchsetzen, das ansonsten vom Stress beherrscht wird, weil der Königsweg ins Heiratsglück – als übliches telos der Komödien – nie gerade verläuft, sondern über immer neue Hindernisse führt?
[2] Muster der Reprise. Themenvariationen und Leitmotive
Wie im 18. Jahrhundert bereits die scènes lyriques auf den Hoftheaterbühnen, so verzichtet auch das populäre Melodram auf Lieder und Arien. Statt vokalmusikalischer Soli, Duette und Ensembles begegnen hier unterschiedliche Varianten einer ›disjunktiven Synthese‹ von melos und drama, die einerseits der Steigerung des Ausdrucks dienen, andererseits zeitdramaturgische Funktionen übernehmen. Erst durch sie wird der fortdauernde Wechsel von Spannung und Erleichterung – das typische Stop and Go der Handlung – gewährleistet. Auf dem Workshop soll es um ein genaues Sondieren dieser Typen von Zeitdramaturgien gehen, wobei vor allem nach der Organisation von déjà vus und Peripetien zu fragen sein wird, aber auch nach den musikalischen Formen der Prolepse und des Spannungsaufbaus sowie des Aufrufens von Reminiszenzen durch Leitmotive. Folgt man den Nebentexten der Bühnenskripte, so bedurfte es dazu nicht zwingend der originellen Einfälle. Es genügte der Rückgriff auf Themen- und Stilregister, auf austauschbare, konventionalisierte Versatzstücke, die als »music of sudden joy« oder schlicht als »music appropriate« summarisch aufgerufen wurden. Zugleich kann man darin einen Hinweis auf die kompositorischen Ökonomien lesen, die unter den Produktionsbedingungen populärer Theater gefragt waren und im Rahmen des Workshops zu erörtern sein werden.
[3] Potpourri und Patchwork
So wenig die populären Theaterformen klassischen Dramenidealen einer Einheit von Ort, Zeit und Handlung verpflichtet sind, so wenig Wert legten sie auf eine stilistische Kohärenz des musikalischen Materials, das heterogene Quellen abschöpft. Zum Teil wurde dabei die Konkurrenz zu anderen Musiktheatern am jeweiligen Spielort produktiv genutzt, zum Teil ergaben sich die musikalischen ›Intertexte‹ aus der innereuropäischen Migration der Stücke, aus ihrem Zirkulieren über die Grenzen Frankreichs, Englands, Deutschlands und Österreichs hinweg. Auf dem Workshop soll genauer geklärt werden, in welchen Austauschbeziehungen und Wechselwirkungen sich solche Potpourri‐Strukturen ausgebildet haben. Das betrifft die Frage nach musikalischen Moden, die sich daran verfolgen lassen; das betrifft aber auch die Auswirkungen von Übersetzungen und Adaptionen aus an deren nationalen Sprech- und Musiktheatergattungen. Für die Wiener Theatermusik ist hier beispielsweise an die französische opéra comique, die italienische opera buffa oder das Vaudeville zu denken. Welche Kompositionstechniken können Volkskomödie und Melodram hier übernehmen? Welche musikalischen Spielräume eröffnet die Parodie, und in welcher Weise konterkarieren bzw. kommentieren diese Parodien wiederum die Dramenplots der jeweiligen Stücke? Welche Traditionen sind auch bei den Liedern der Volkskomödie in Rechnung zu stellen?