Leibniz Universität Hannover, Leibnizhaus, Am Markte 4-6, 30159 Hannover
5. Februar 2015, 12:45 Uhr – 7. Februar 2015, 13:15 Uhr
Mit der methodologisch grundlegenden Konzentration des Schwerpunktprogramms »Ästhetische Eigenzeiten« auf unterschiedliche Manifestationen von Zeit in einzelnen Objekten, Objektgruppen oder Subjekt-Objekt-Verbindungen rückt auch die Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Form(en) in den Fokus. Zeit ist nicht nur Gegenstand von Darstellungen, sondern auch eine eigene Dimension der jeweiligen Gestaltung, Beobachtung und Deutung von Texten, Kunstwerken, Architekturen, Objekten, Stadtbildern und Landschaften sowie von bearbeiteter oder beobachteter Natur. In Anlehnung an den Sprachwissenschaftler Émile Benveniste hat Giorgio Agamben von ›operativer Zeit‹ gesprochen; er bezeichnete damit die Zeit, über die sich ein Tanz- oder Musikstück erstreckt, aber auch die Rezeptions-Zeit des Zuhörens oder Lesens, die es in Anspruch nimmt.
Die Unhintergehbarkeit dieser operativen Zeit beschränkt sich jedoch nicht allein auf die sogenannten ›Zeitkünste‹, sondern gilt auch für Bilder und dingliche Artefakte, deren Betrachtung ebenfalls Zeit erfordert und komplexe Zeiterfahrungen anstößt. Insbesondere ästhetische Formverhältnisse sind immer auch Zeitverhältnisse. Im Unterschied zu älteren Formtheorien, die sich an der Dichotomie von Form und Materie (oder Substanz) ausrichteten, dem Paradigma der Prägung folgten und Zeitenthobenheit suggerierten, wird Form daher heute wesentlich als Organisation von Zeit verstanden. Damit wird Form nicht bloß als dynamische Antwort auf vor ihr liegende Nicht-Form gedacht, vielmehr wird ihr eine inhärente und notwendige Zeitdimension zugesprochen – eine konzeptuelle Entscheidung, nach deren Konsequenzen im Rahmen der Tagung gefragt werden soll.
In dieser Perspektive werden Formen als Darstellungen und Vollzüge denkbar, in denen sich Inhalte als Form artikulieren. Form indiziert eine nicht-propositionale Dimension des kulturellen Zeit-Wissens, die, gerade mit Blick auf ihre operativen und eigenzeitliche Gestalt annehmenden Effekte in Kunst, Gesellschaft und Wissenschaft, zu diskursiven Setzungen alltäglicher, sozialer oder wissenschaftlicher Art in ein Verhältnis zu bringen ist. Die Tagung »Zeiten der Form, Formen der Zeit« fragt daher zum einen nach den Zeitverhältnissen, die sich in Formprozessen ergeben bzw. diese konstituieren, zum anderen aber nach den Interferenzen mit einem Zeit-Wissen, das die Gegenstände propositional oder diskursiv verhandelt. Zwar ist dabei den jeweiligen Form-Begriffen und ihrer fachspezifischen Genese Rechnung zu tragen, Ziel der Tagung ist jedoch die Erprobung interdisziplinär handhabbarer ›Form‹-Konzepte, in deren Zentrum nicht mehr die Relation von Form und Substanz, sondern das Verhältnis von Form und Zeit (der Unterscheidungs- und Setzungsprozesse) steht.